Kliniken im ersten Pandemie-Jahr: Patienten-Schwund und "COVID-Fälle" ohne COVID
Ein Gastbeitrag von Susan Bonath
Waren die Kliniken 2020 wirklich so überfüllt wie behauptet? Analysen und Recherchen zeichnen ein anderes Bild.
Falsch deklarierte Kranke
Die Zahl schwerkranker COVID-19-Patienten steige weiter. 5.639 solche Fälle führte das Register der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz DIVI, am letzten Tag des ersten Pandemiejahres 2020 auf – Tendenz damals noch weiter steigend.
Mit dem Damoklesschwert der Triage versetzten viele Leitmedien ihre Leser in Panik. Schließlich steckten diese im erst Mitte Dezember noch einmal verschärften Lockdown.
Doch viele Skeptiker trauten schon damals den Zahlen nicht. Es war bekannt, dass jeder Patient zunächst einen PCR-Test auf das Coronavirus SARS-CoV-2 bekam, bevor er in einer Klinik behandelt wurde – egal ob es um eine Krebs-Therapie oder eine Knie-OP ging. Dieses Vorgehen hat tatsächlich viele Zufallsfunde zutage gefördert, die aber oft trotz positivem Befund keine Symptome der Lungenerkrankung COVID-19 zeigten. Das geht aus einem aktuellen Bericht der ZEIT hervor.
Auf Anfrage des Blattes räumten 20 Kliniken aus ganz Deutschland ein, dass 20 bis 30 Prozent der "COVID-19-Patienten" wegen völlig anderer Erkrankungen behandelt werden mussten und auch wurden. Doch ob des positiven Tests listete sie das Robert Koch-Institut (RKI) trotz fehlender Symptomatik als COVID-19-Fälle auf. Auch die DIVI räumte auf Nachfrage der Zeitung ein: Auf den Intensivstationen werde jeder zehnte im Register aufgeführte Patient wegen anderer Erkrankungen behandelt. So viele schwere COVID-Fälle wie behauptet gibt es offenbar nicht.
Das RKI rechtfertigte sich gegenüber dem Blatt: Das "harte Kriterium", um als COVID-Fall in die Daten einzugehen, sei nun einmal ein positiver Test. Und selbst davon gibt es derzeit immer weniger. Von Anfang Januar, als der Höchststand der "COVID-Fälle" auf Intensivstationen (Intensivtherapiestation: ITS) mit 5.762 angegeben worden war, bis zum 17. Februar sanken selbst die offenkundig aufgebauschten Zahlen um rund 44 Prozent.
Weniger Patienten trotz "Jahrhundert-Pandemie"
Die propagierten Zahlen stimmten offensichtlich nicht mit der Realität überein. Dafür sprechen auch neue am 16. Februar veröffentlichte Daten der IQM Initiative Qualitätsmedizin e.V., die der Verband von 431 deutschen Kliniken erhoben und hatte. Darin ist ein Viertel aller Krankenhäuser in der Bundesrepublik erfasst, die 2020 rund ein Drittel aller Betten stellten. Demnach behandelten die Einrichtungen letztes Jahr insgesamt rund sechs Millionen Menschen – fast eine Million und damit 13,6 Prozent weniger als 2019, wie Tabelle 1 der IQM-Analyse belegt.
Tabelle 4 der IQM-Analyse gibt einen tieferen Einblick. Danach gingen auch die Patientenzahlen auf den ITS dieser Häuser gegenüber dem Vorjahr um 4,7 Prozent auf 344.211 zurück. Die Anzahl der Behandelten mit Erkrankungen der Atemwege, sogenannte SARI-Fälle (Schwere Akute Respiratorische Infektion), zu denen auch COVID-19 gehört, schrumpfte sogar um gut zehn Prozent auf 353.535 Fälle. Eine invasive Intubation, also maschinelle Beatmung, mussten rund 163.000 Menschen über sich ergehen lassen – 6,4 Prozent weniger als noch 2019.
Über den Grund für den Rückgang der Patientenzahlen lässt sich spekulieren. Die Annahme, andere Erkrankungen könnten zurückgegangen sein, ist wenig plausibel. Es gibt allerdings einen zeitlichen Zusammenhang mit Hunderttausenden von verschobenen anderweitigen Behandlungen. Hinzu kommt die geschürte Angst vor Corona. Konkrete Daten über derlei Folgen wurden bisher nicht veröffentlicht.
Leicht erhöhter Anteil an Sterbefällen
Gestiegen ist allerdings der Anteil der Todesfälle in den Krankenhäusern. 2019 überlebten 2,3 Prozent aller Patienten, insgesamt 162.889 Menschen, ihren Klinikaufenthalt nicht. Im ersten Pandemie-Jahr starben 163.381 Patienten, also nicht einmal 500 mehr. Aber im Vergleich mit den gesunkenen Fallzahlen war die Sterberate damit höher. So verließen denn auch im vergangenen Jahr 2,7 Prozent der Behandelten das Krankenhaus nicht mehr lebend.
Dass SARI-Fälle, also in der Regel schwere Lungenentzündungen, häufiger zum Tod führten, fällt besonders ins Gewicht. Während 2019 insgesamt 12,2 Prozent dieser Patienten starben, überlebten im Jahr 2020 nun 15,3 Prozent ihre Erkrankung nicht mehr. So stieg die Zahl der mit SARI-Diagnose in einem der 431 Krankenhäuser Verstorbenen trotz Rückgangs der Gesamtfälle von 48.257 auf 54.066, also um rund zwölf Prozentpunkte an.
Die Todesfälle in den Intensivstationen insgesamt nahmen geringfügig um 0,6 Prozent zu. Im Jahr 2019 starben dort 64.937 Menschen, 18 Prozent aller Behandelten. 2020 verzeichneten die Intensivstationen der Häuser 65.338 Tote, womit rund 19 Prozent die ITS-Behandlung nicht überlebten. Die absolute Zahl der Verstorbenen, die zuvor beatmet wurden, sank indes leicht von 52.450 auf 51.375.
IQM-Daten: COVID-Fälle ohne COVID
Schließlich scheint die IQM-Studie auch ZEIT-Recherchen zu bestätigen: Wer als COVID-Fall gilt, muss nicht immer COVID haben. Tabelle 2 laut IQM zeigt Fälle auf, die zwei verschiedenen Diagnoseschlüsseln zugeordnet worden waren: U07.1 und U07.2. Ersterer steht für mittels PCR-Test "bestätigte COVID-19-Fälle", letzterer fasst sogenannte "COVID-19-Verdachtsfälle" zusammen. Diese wurden bemerkenswerterweise negativ getestet. Um als Verdachtsfall zu gelten, reicht demnach bereits ein nachgewiesener Kontakt zu einer positiv getesteten Person – unabhängig vom Krankheitsbild – oder eine Lungenentzündung.
Demnach behandelten die 431 IQM-Kliniken 69.364 positiv getestete COVID-Patienten und 84.435 negativ getestete "Verdachtsfälle". Die Frage, ob für letztere die gleichen Hygiene-Sondermaßnahmen galten, beantwortet die Studie nicht. Sollte dies aber der Fall sein, dürfte sich das verschärfend negativ auf die Lage in den Kliniken und die Behandlung der Patienten dort ausgewirkt haben.
Angesichts dieser Zuordnungskriterien ist es wenig erstaunlich, dass nur zwei Drittel der 69.364 positiv getesteten und sogar nur drei Viertel der negativ getesteten Patienten in den COVID-Datenbanken überhaupt eine Atemwegserkrankung hatten, also ein SARI-Fall waren, obwohl COVID-19 dazu gehört.
Hohe Sterberate bei Positiven und Beatmeten
Auffällig ist indes, dass von den positiv getesteten Patienten insgesamt ein weitaus höherer Anteil beatmet wurde (13,8 Prozent) und verstarb (18,3 Prozent) als in der Gruppe der Verdachtsfälle (sechs und 6,4 Prozent). Legt man jedoch das Auftreten einer Atemwegserkrankung zugrunde, zieht also nur die SARI-Fälle heran, stellt man Erstaunliches fest: Waren diese Patienten positiv getestet, lag die Beatmungsrate mit 20,2 Prozent niedriger als bei den negativ getesteten SARI-Fällen (25 Prozent). Wiederum starben von den positiv getesteten SARI-Betroffenen mehr (23,2 Prozent) als bei den negativ Getesteten (14,6 Prozent).
Bedenklich gering stellt sich in den IQM-Daten die Überlebensrate von invasiv beatmeten Patienten dar. 46,4 Prozent der positiven Patienten starben, bei den negativ getesteten "Verdachtsfällen" waren es 33,9 Prozent. Insgesamt fanden fast 40 Prozent der Positiven auf Intensivstationen – unabhängig von der Behandlung – den Tod. Bei Menschen mit Verdachtsdiagnose waren dies gut 23 Prozent.
Etliche Experten kritisieren seit Beginn der Pandemie eine zu frühe Intubation von Corona-Patienten. Auch der Chefarzt der Lungenklinik Moers, Thomas Voshaar, gehört dazu. Er selbst sehe davon ab, sagte er etwa gegenüber der Frankfurter Rundschau.
Voshaar wies für seine Klinik eine um drei Viertel niedrigere Todesrate bei den COVID-Fällen (sechs Prozent) aus. Insgesamt liege diese bei rund 22 Prozent, mahnte er.
Die Beatmungsrate bei "COVID-Fällen" liegt laut DIVI-Register aktuell bei 57 Prozent – also extrem hoch. Möglicherweise spielen dabei sogar höhere Fallpauschalen für invasiv Intubierte eine Rolle. So spült diese Behandlung richtig Geld in die Kassen der Kliniken. Darüber berichtete die Weltschon im April 2020 und warnte im Hinblick darauf vor einem gewissen Anreiz.
Deutlich höhere Todesrate im letzten Quartal
In Tabelle 3 fördert die IQM-Analyse einen weiteren bedenklichen Befund zutage: In der sogenannten zweiten Corona-Welle stieg der Anteil der Verstorbenen unter den insgesamt behandelten positiv Getesteten drastisch an. Unter der Rubrik "1. Welle" erfasste die IQM den Zeitraum bis Anfang Oktober. Das letzte Jahresquartal deklarierte der Verband als "2. Welle".
In "Welle 1" starben demnach in Kliniken 3.159 Menschen und damit 16,8 Prozent aller Patienten. Von den danach bis Jahresende behandelten 50.573 Betroffenen verließen 9.559 Menschen, 18,9 Prozent, das Krankenhaus nicht lebend.
Der Anteil der SARI-Fälle unter den positiv Getesteten lag in "Welle 1" bei 72,5 Prozent, von diesen starben 20,9 Prozent, also gut ein Fünftel. In "Welle 2" betrug ihr Anteil nur noch 66,7 Prozent, von denen nunmehr fast ein Viertel, 24,8 Prozent der Patienten, starb. Die Sterberate bei positiv Getesteten lag in den Intensivstationen in "Welle 1" bei 32,6 Prozent, in "Welle 2" kletterte sie auf 42,5 Prozent. Bei den Beatmungspatienten ist der Anstieg der Sterberate von 38,5 auf 50,7 Prozent noch gravierender.
Falsche Behandlung? IQM hofft auf Einzelfalldaten
Die IQM begründet die höhere Sterblichkeit in "Welle 2" unter anderem mit einem Anstieg des mittleren Alters der Patienten von 60,4 auf 64,6 Jahre. Da dem Verband keine Daten zu den verabreichten Medikamenten und den jeweiligen Einzelfällen übermittelt worden seien, "können wir hierzu lediglich spekulieren". Die Autoren bekundeten ihre Hoffnung, "dass Registerdaten mit auf die individuellen Patienten bezogenen Analysen bald Aufschluss über die möglichen Ursachen geben werden".
Ferner können sich die Autoren "die geringere prozentuale Inanspruchnahme der Intensivmedizin und der Beatmung nicht primär durch mangelnde Kapazitäten erklären". Im Vergleich zu 2019 seien den Daten zufolge nämlich nicht mehr Fälle, die dessen bedurften, aufgetreten. Zu einer Überlastung einzelner Krankenhäuser könne es wegen ungleichmäßiger Verteilung der COVID-19-Patienten, unterschiedlichen Personal-Situationen und einer längeren Beatmungsdauer gegenüber dem Vorjahr trotzdem gekommen sein, "auch wenn das in der Summe nicht der Fall war".
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