Medwedew: Der demente Westen treibt unsere kleine Welt zur atomaren Apokalypse
Der russische ehemalige Premierminister, Ex-Präsident und amtierende Vize-Chef des Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, ist mit Sicherheit der bekannteste russische Politblogger, der zugleich in Moskau auch ein hohes politisches Amt bekleidet. Seine oft sehr spitz formulierten Gedanken zu politischen Konflikten der Gegenwart teilt er auf seinen Telegram-Kanälen, seine Kurzkommentare kann man auf Twitter lesen. Am Sonntag hat er in der russischen Parlamentszeitung Rossijskaja Gaseta seine Einschätzung zum wichtigsten Konflikt unserer Zeit in einem längeren Aufsatz veröffentlicht.
Dieser sei zweifellos der Kampf des von Angelsachsen angeführten Westens für die globale Weltherrschaft gegen den Rest der Welt, wobei Letzterer immer mehr "Würgereiz" bekomme, wenn er vom Leben gemäß einer "regelbasierten Ordnung" nach westlichem Zuschnitt hört. Die Opposition gegen den kollektiven Westen sei global geworden. Medwedew stellt fest:
"Die Jahre 2022-2023 werden in die Geschichte eingehen als Zeit eines gewaltigen zivilisatorischen Bruches und als Höhepunkt der existenziellen Krise der Menschheit im 21. Jahrhundert."
Er geht erneut auf die Gründe für den russischen Einmarsch in die Ukraine ein: Russland habe auf der Grundlage von Artikel 51 der UN-Charta von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht. Erwähnt werden auch russische Verhandlungsangebote, die Russland Ende 2021 an die NATO und die USA überreicht hat. "Wir haben immer nur um eines gebeten ‒ unsere Anliegen zu berücksichtigen und ehemalige Teile unseres Landes nicht in die NATO einzuladen. Insbesondere solche, mit denen wir territoriale Streitigkeiten haben. Unser Ziel ist daher einfach ‒ die Bedrohung durch die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu beseitigen." Doch der Ukraine-Krieg ist nach Medwedew kein regionaler Konflikt, sondern ein Teil eines größeren Ganzen.
"Es ist eine totale Konfrontation zwischen dem konventionellen kollektiven Westen und dem Rest der Welt. Die Ursache sind diametral entgegengesetzte Ansichten über die weitere Entwicklung der Menschheit."
Russland nannte er "Die Eigensinnigen", die gegen die Logik der westlichen Doppelmoral rebelliert haben. "Die Konfrontation wird sehr lange dauern, und es ist zu spät, die Eigensinnigen (das sind wir) zu zähmen." An dieser Stelle beginnt wohl der wichtigste Teil seines Aufsatzes ‒ die Überlegungen über die Perspektiven, in einen nuklearen Weltkrieg abzugleiten. Es lohnt sich daher ein längeres Zitieren:
"Die tektonische Kluft, die sich im Verständnis der Zukunft in verschiedenen Teilen der Welt gebildet hat, wird sich nur noch verschärfen. Man muss kein Visionär sein, um zu erkennen, dass die Phase der Konfrontation sehr lang sein wird. Die Konfrontation wird sich über Jahrzehnte hinziehen. Eine Möglichkeit, sie zu lösen, ist ein Dritter Weltkrieg.
Aber das ist natürlich eine schlechte Variante, denn den Gewinnern ist keineswegs dauerhafter Wohlstand garantiert, wie es nach früheren Weltkriegen der Fall war. Höchstwahrscheinlich wird es einfach keine Gewinner geben. Eine Welt, in der ein nuklearer Winter herrscht, in der Millionenstädte in Schutt und Asche liegen, in der es keinen Strom mehr gibt, weil der elektromagnetische Impuls unerträglich ist, und in der eine große Zahl von Menschen durch Schockwellen, Lichtstrahlung, durchdringende Strahlung und radioaktive Verseuchung getötet wird, kann nicht als Sieg angesehen werden. Wo schreckliche Epidemien und Hungersnöte herrschen."
Eine solche Apokalypse sei nicht nur möglich, sondern auch ziemlich wahrscheinlich, weil die Gegner Russlands beschlossen haben, die größte Atommacht, Russland, zu besiegen, was "absolut idiotisch" sei. Der zweite Grund besteht darin, dass es kein Tabu bei den russischen Gegnern für den Einsatz der Atomwaffen gebe. An dieser Stelle verweist Medwedew auf die atomare Bombardierung der japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ‒ "bekannt, durch wen [diese erfolgte]".
Die einzige Möglichkeit, diesen totalen Widerspruch aufzulösen, ohne dabei ein atomares Inferno zu riskieren, bestehe darin, "über einen langen Zeitraum hinweg die härtesten Kompromisse zu finden".
"Ja, es wird viel Kommunikation, Geduld, Zurückhaltung, Rückzug aus und Wiederaufnahme von Verhandlungen geben, aber am Ende werden die internationalen Konturen einer gerechten und sicheren Welt des 21. Jahrhunderts entstehen. Das wird wahrscheinlich Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern", schwärmt der russische Ex-Präsident.
Hier zählt Medwedew russische Forderungen auf, die auf dem Weg zu dieser neuen Weltordnung unbedingt erfüllt werden müssen. Die Kompromisse seien "nur unter Berücksichtigung einiger grundlegender Punkte" möglich:
"Es darf grundsätzlich keine antirussische Haltung mehr geben, sonst wird es früher oder später sehr schlimm enden. Das Kiewer Naziregime muss ausgelöscht werden. Im zivilisierten Europa als faschistisch gesetzlich verboten. Es muss wie ein verrottetes Stück Speck auf den Müllhaufen der Weltgeschichte geworfen werden."
Medwedew schreibt generell viel über die Ukraine und die Perspektiven für die weitere Existenz dieses Staates ‒ rhetorisch zugespitzt, versteht sich. Am selben Tag hat er in einem Telegram-Beitrag die Ukraine mit einem mythischen "Sannikow-Land" aus einem sowjetischen Science-Fiction-Film verglichen.
"Dies sind die Grenzen der Regionen Russlands und der ehemaligen Provinzen des Russischen Reiches, nicht die der mythischen Ukraine. Die Ukraine ist Sannikow-Land, gegründet von Lenin. Es existierte für kurze Zeit und verschwand von der Landkarte. Ein solches Land gibt es nicht. Egal, was sie im Westen und in der besetzten russischen Stadt Kiew denken."
Mit dieser Replik hat Medwedew die Forderungen Selenskijs für die Wiederaufnahme der Verhandlungen kommentiert, Russland müsse seine Truppen an die Grenzen der Ukraine des Jahres 1991 zurückrollen.
Was auch immer an die Stelle der ehemaligen Ukraine treten wird, der Westen müsse dies akzeptieren, wenn er nicht will, dass "unsere unvollkommene Zivilisation ein apokalyptisches Ende nimmt", so Medwedew weiter in seinem Aufsatz.
Auch der russische Außenminister Sergei Lawrow sprach am Wochenende über die Ukraine. Es war zu bemerken, dass er nicht nur über den Schutz der Bevölkerung des Donbass vor dem "nazistischen Kiewer Regime" gesprochen hat, sondern über den gesamten Südosten. Über die Ukraine redete er in der Vergangenheit als "die ehemalige Ukraine", was ein Novum ist. Im Hinblick auf die beispiellosen Sprachverbote und die Kirchenverfolgung sagte er:
"Wir kämpfen nicht für Gebiete, sondern für Menschen, für unsere Geschichte, unsere Religion, die russische Sprache, die eine offizielle Sprache des gesamten UN-Systems ist und die jetzt nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen europäischen Ländern, im Baltikum, unterdrückt wird", sagte Lawrow.
Am Ende skizziert Medwedew seine Vorstellungen darüber, wie die neue Vereinbarung über die gemeinsame Sicherheit getroffen werden könnte. Alle hart erkämpften Ergebnisse der totalen Konfrontation müssten in einem neuen Dokument vom Typ der Helsinki-Akte verankert werden, die das berühmte Treffen von 1975 abschloss ‒ aber nicht mehr in Helsinki, weil Finnland nun seine Neutralität zugunsten der NATO-Mitgliedschaft aufgegeben habe.
Wahrscheinlich bedürfe es auch einer sorgfältigen Neuordnung der UNO und anderer internationaler Organisationen. Denn die UNO in ihrer jetzigen Form werde den Erwartungen der freien Völker nicht mehr gerecht. Dies gelte umso mehr auch für die anderen westlich dominierten Organisationen, wie den IStGH, die OSZE oder den Europarat. "Sie befinden sich schon jetzt auf dem stinkenden Haufen der Weltentwicklung."
Am Ende des Aufsatzes betont der Politiker, dass er nicht optimistisch gestimmt sei. Dafür gibt er dem Westen einseitig die Schuld und bedient sich seiner inzwischen gewohnten sprachlichen Bilder:
"Im Moment versucht die endgültig degenerierte politische Klasse des Westens, sich in einer blutigen Clownhorror-Show aufzuspielen. In einem Zustand anhaltender Demenz treibt sie unsere kleine Welt auf den Dritten Weltkrieg zu. Das zugedröhnte Regime in Kiew treibt bis zum letzten Ukrainer alle in den Krieg."
In den letzten Wochen hat sich die Rhetorik der nuklearen Bedrohung deutlich zugespitzt. Die Ukraine beschuldigt Russland, "Terrorpläne" zur Sprengung des Atomkraftwerkes Saporoschje zu verfolgen, und schlägt weltweit Alarm. Russland sieht darin ein Zeichen dafür, dass Kiew ebendiese Provokation plane, vermutlich durch einen Drohnenangriff. US-Senatoren drohen Russland mit einem NATO-Einmarsch in die Ukraine und Russlands Außenpolitik-Experten diskutieren über einen präventiven Atomschlag gegen europäische Städte.
Auch Olaf Scholz gab am Sonntag einen Kurzkommentar zum Ukraine-Krieg. Im Sommerinterview für die ARD hat er noch einmal bekräftigt, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen dürfe und dass Deutschland seine Unterstützung der Ukraine fortsetze ‒ "so lange, wie es notwendig ist".
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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.